Graz im späten November. Drei oder vier mickrige Grad am Thermometer, Flyerstapel in der Hand, sprichwörtliche weiße Weste an.
Infostände sind doof. Nein, die ganze Idee von “Wahlkampf” an sich ist doof. Ich komm mir vor wie ein Versicherungsvertreter. Hier ich in Uniform, Hochglanz-Werbeprospekt in der Hand; dort die Vielbeschäftigten, die ich auf ihren abendlichen Besorgungen störe. Ein lästiges Hindernis auf ihrem Weg von A nach B. B ist bestimmt wichtiger in ihrem Leben als mein Anliegen: Sie zu überzeugen, dass sie bloß noch nicht wissen, dass es auch ihr Anliegen ist.
Ich selbst würd’ da doch nie stehen bleiben. Mir ist kalt. Ich kann das nicht.
Gedanken verdrängen, Mut zusammennehmen, Grinser breiter ziehen.
“Guten Abend! Gehen Sie am Sonntag wählen? Haben Sie schon von den Piraten gehört?”
“Nein danke, ich–– ach, die Piraten? Interessant. Geben Sie mal her.“
Junge Menschen nähern sich.
“Hey! Politik ist scheiße, oder?”
Ein Lacher. Das haben sie jetzt nicht erwartet.
“Aber muss das so sein?”
Und dann kommen sie. Die beeindruckende Pensionistin, stets unabhängig aus Überzeugung, die auf ihre alten Tage noch waschechte Piratin werden könnte. Die ganz frisch Wahlberechtigten, die eh schon länger wissen wollten, wie sie denn da mitmachen können. Das Programm hat der eine schon einstudiert – jetzt will er bloß noch wissen, ob ich’s auch aufsagen kann. (Test bestanden, Telefonnummern ausgetauscht.) Der Mensch, der dem ORF einen Beschwerdebrief über die Moderation meines Interviews geschrieben hat. Die junge Dame, die ich oberflächlich sofort in die “Politik-uninteressierte Jugendliche” Schublade gesteckt hätte, die da drüben schon seit einer Viertelstunde den Kandidaten löchert. Der Kommunist, der mit seiner kleinen Tochter verhandelt, ob Papa kurz stehenbleiben und diskutieren darf. (Darf er erst, als er verspricht sie solange auf seinen Arm zu nehmen). Der Sohn der Grünen, der sorgfältig die Rebellion abwägt. Die paar, die gleich zu Knackpunkten kommen: Warum gibt’s so wenig Frauen bei euch?
Klar, viele winken ab. “Bin nicht von hier”, heißt’s aber auch dann weitaus öfter als “Ich weiß schon, was ich wähle”. Offene Ablehnung ist selten: Mitleidvolles Lächeln oder entnervtes Kopfschütteln sind in der Minderheit. Fast alle haben von uns gehört – es überwiegt mehr oder weniger milde neugieriges Interesse.
“Das haben schon viele gesagt” entpuppt sich als häufigste Gegenfrage auf die Versprechungen der Mitbestimmung im elevator pitch, wenn mal jemand lang genug stehen bleibt. (B kann wohl doch warten.) Schnellkurs darin, was im 2-Minuten-Gespräch funktioniert, und was nicht: Das bedingungslose Grundeinkommen ist zu fernab der Lebensrealität, um in diesem Zeitrahmen ernst genommen zu werden. Wie kann man Liquid Democracy noch einfacher ausdrücken? Zu viel Internet kommt nicht gut, das sollt ich weglassen.
Moment – jetzt wird’s ja wirklich Marketing.
Ich ertappe mich bei allzu leeren Phrasen und steige um auf Fragen.
“Was stört dich an Graz?”
“Fühlst du dich von der Politik vertreten?”
“Wie würde sich dein Leben ändern, wenn du 800 Euro im Monat vom Staat bekommen würdest?”
Meine Antwort auf die zynische Gegenfrage, wieviel man denn für’s hier rumstehen bezahlt bekäme – bei uns bekommt natürlich niemand irgendwas – verschafft Respekt. Ich beginne, die “Ich wähl euch eh sicher” mitzuzählen und im Kopf hochzurechnen.
“Danke, dass ihr das machts”, sagt einer, die Daumen nach oben.
Ich glaub, das könnt’ was werden in Graz.
Auf der Heimfahrt – Zeit für ein wenig Online-Wahlkampf – an den Infoständen der Mitbewerber vorbei. So fancy sind wir nicht. Aber doch zu sehr die gleiche Kategorie, für meinen Geschmack.
Ich glaub, das nächste Mal druck ich mir “Politik ist scheiße – aber muss das so sein?” schon auf’s T-Shirt.
Oder doch gleich “Trau keinen Wahlkämpfenden – informier dich schon vorher”?
„Meine Antwort auf die zynische Gegenfrage, wieviel man denn für’s hier rumstehen bezahlt bekäme, verschafft Respekt.“
Was war deine Antwort?
Hab den Artikel upgedatet.
das würde mich allerdings auch interessieren. Und phuuh, es gibt gemütlicheres als im Nov. draußen Wahlkampf zu machen. Schön, wenn du dann doch von den Leuten überrascht wurdest!
Abgesehen von ein paar (selbst gebackenen) Keksen und (von anderen mitgebrachten) Kaffee bekommt man dafür nix.. Außer natürlich interessante Gespräche und hoffentlich ein paar WählerInnen. ;-)
Marketig ist schon scheiße, aber muss das so sein? ;)